Kopfhörer Person Info Externer Link

A Ehemaliges Waisenhaus

Station A auswählen

Das imposante Gebäude in der Berliner Straße 120/121 wurde 1913 als Neubau des II. Waisenhaus der Jüdischen Gemeinde zu Berlin errichtet. Es beherbergte bis zu 100 Waisenjungen, die dort Ihre Schulzeit bis zum Abschluss einer handwerklichen Ausbildung erlebten. Als 1936 jüdische Schüler*innen von den staatlichen Schulen ausgeschlossen wurden, richtete die Jüdische Gemeinde hier eine jüdische Volksschule ein, in der auch Jungen und Mädchen aus der Umgebung unterrichtet wurden. Die Verfolgung der Juden in Deutschland verschlimmerte sich nun von Woche zu Woche. 1940 wurde das Gebäude durch das Bezirksamt Pankow enteignet und geräumt, und dann 1942 von der SS beschlagnahmt. Die Schule blieb geschlossen und die bis dahin noch verbliebenen Zöglinge und Erzieher*innen wurden in anderes Jüdisches Waisenhaus in der Schönhauser Alle verbracht. Später wurden viele von Ihnen in Konzentrationslager deportiert und dort umgebracht. Das ehemalige Waisenhaus beherbergt heute eine Stadtbibliothek und die Büros der Cajewitzstiftung, die das Haus im Jahr 2000 erwarb und anschließend restaurierte. Auf die Rekonstruktion des früheren Beetsaales wurde besonderes Augenmerk gelegt. Er dient heute als Veranstaltungsraum.

Bild 1 – Das II. Waisenhaus der Jüdischen Gemeinde zu Berlin um 1930
Bild 1 – Das II. Waisenhaus der Jüdischen Gemeinde zu Berlin um 1930
Bild 2 – Beetsaal des ehemaligen Jüdischen Waisenhauses um 1930
Bild 2 – Beetsaal des ehemaligen Jüdischen Waisenhauses um 1930
Bild 3 – Kurt Crohn, letzter Direktor des II. Jüdischen Waisenhauses zu Berlin
Bild 3 – Kurt Crohn, letzter Direktor des II. Jüdischen Waisenhauses zu Berlin

Info - Zur Geschichte des ehemaligen Waisenhauses

Von Justizrat Hermann Makower gegründet, wurde am 22. Oktober 1882 in einem zweistöckigen Landhaus in der Pankower Berliner Straße ein jüdisches Waisenhaus eröffnet. Hermann Makower stand einem jüdischen Hilfskomitee für die vom Zarismus in Russland verfolgten Jüdinnen und Juden vor. Als Beweis praktischer Hilfeleistung reiste er nach Brody an der russisch-polnischen Grenze und wählte unter den dorthin Geflüchteten 39 Jungen aus, um sie in Berlin zu erziehen, zu unterrichten und später zu Handwerkern auszubilden. Sie waren die ersten Zöglinge im „Erziehungshaus Pankow“, das 1891 von der Berliner Jüdischen Gemeinde als Wohlfahrtseinrichtung übernommen wurde und 1897 die Bezeichnung „II. Waisenhaus der Jüdischen Gemeinde zu Berlin“ erhielt. Unter seinem langjährigen Direktor Isidor Grunwald, der das Heim von 1888 bis zu seinem Tod 1925 leitete, wurden bald auch einheimische Knaben im Alter von sechs bis zwölf Jahren aufgenommen. In der Regel verließen sie die Anstalt erst nach Schulabschluss und einer beendeten handwerklichen Lehrausbildung. Der ursprünglich zweiklassigen Internatsschule wurde 1913 eine 3. Klasse, später eine 4. Klasse hinzugefügt. In Anbetracht wachsender Schülerzahlen musste das Gebäude erweitert werden. 1912/13 entstand nach dem Entwurf des jüdischen Architekten Alexander Beer der imposante Neubau, der noch heute gegenüber dem Pankower Postamt in der Berliner Straße zu sehen ist.

Der Baumeister stattete das Haus mit einer beachtlichen Innenarchitektur aus. Einige Räume und Gänge waren mit kindertümlichen Reliefs und Wandfriesen geschmückt. Besonders kunstvoll war die Ausgestaltung des vom benachbarten jüdischen Zigarettenfabrikanten Garbáty gestifteten Betsaales im 2. Obergeschoß, der mit seiner herrlich verzierten Kassettendecke, dem bestickten Toravorhang aus dunkelrotem Samt, den prachtvollen Kronleuchtern und den hohen Rundbogenfenstern zu einer weihevollen Atmosphäre beitrug. Die Gottesdienste wurden hier mit liberalem Ritus abgehalten, unter Verwendung eines Harmoniums und mit Beteiligung des Knabenchores.

Inzwischen lebten und lernten über 100 Schüler und Lehrlinge in diesem Haus. Als nazistische Behörden zum Ausschluss jüdischer Schüler aus öffentlichen Schulen übergingen, richtete die Jüdische Gemeinde 1936 im Pankower Waisenhaus eine jüdische Volksschule ein, die neben den Heiminsassen auch externe Schüler, Jungen und Mädchen aus der Umgegend, unterrichtete. 1937 lernten hier etwa 130 Schüler in fünf Klassen. Die „Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens“ vom 3. Dezember 1938 ermöglichte den Nazis den ungehinderten Raub von Gewerbebetrieben, Grundeigentum und persönlichen Wertgegenständen. Auch das Pankower Bezirksamt begann wenig später, Ansprüche auf jüdische Heime und ihre Grundstücke anzumelden. Ende Dezember 1940 musste das jüdische Waisenhaus geräumt werden; die bis dahin noch nicht aus Deutschland emigrierten Zöglinge wurden mit ihrem Direktor Kurt Crohn im Baruch-Auerbachschen Waisenhaus in der Schönhauser Allee 162 (Prenzlauer Berg) untergebracht, bis viele von ihnen auch aus dieser letzten Zufluchtsstätte in die Konzentrationslager deportiert wurden. Das große Haus in der Berliner Straße 120/121 beherbergte für wenige Monate noch Insassen aus jüdischen Berliner Altersheimen. 1942 beschlagnahmte der Reichsführer der SS das Haus, das dann als Dienststelle des Reichssicherheitshauptamtes genutzt wurde.

Nach Ende des 2. Weltkrieges fand das neugebildete Pankower Bezirksamt für kurze Zeit hier Unterschlupf. Dann wurde das Haus polnisches Botschaftsgebäude, und viele Jahre lang, bis 1991, war die Botschaft von Kuba hier untergebracht. Im Frühjahr 2000 erwarb die „Dr. Walter und Margarete Cajewitz-Stiftung“ dieses jüdische Kulturdenkmal und begann mit der Rekonstruktion. Dies konnte im Mai 2001 als Gedenkstätte für jüdisches Leben in Pankow sowie als öffentliche

Kultur- und Sozialeinrichtung wieder eröffnet werden. Der historische Betsaal wird als Veranstaltungsstätte genutzt. Im Haus befindet sich eine Gedenkwand mit den Namen von 579 deportierten und ermordeten Jüdinnen und Juden aus Pankow. An der Fassade befindet sich seit 2003 eine weitere Gedenktafel.

[Quelle] Inge Lammel: Stätten jüdischen Lebens in Pankow – Ein Rundgang. 4.Auflage, 2012. VVN-BdA Berlin-Pankow e.V.

Person – Kurt und Susanne Crohn, Leitung des Waisenhauses bis zur Schließung

Kurt Crohn wurde 1896 in Pommern geboren. Er verlor früh seine Eltern und kam so in das jüdische Waisenhaus in Pankow, dessen Direktor er später wurde. Das Waisenhaus ermöglichte ihm eine geborgene Kindheit und einen guten Start ins Berufsleben. Seine Frau, Susanne Crohn, war wie Kurt von Beruf Lehrer. Zusammen übernahmen sie 1936 die Leitung des Waisenhauses, zu einer Zeit, die bereits von immer heftiger werdender Ausgrenzung und Verfolgung der Juden geprägt war. Ihre Tochter Renate wuchs mit ihnen im Waisenhaus auf. Sie überlebte wie ihre Mutter die Shoah und berichtete, wie ihr Vater jeden Abend dieser zunehmend gefährlichen Tage mit den größeren Jungen zur Beruhigung betete. Die Crohns flohen nicht ins Ausland, weil sie sich als Deutsche fühlten. Kurt Crohn war sogar Veteran des ersten Weltkrieges, wie viele deutsche Juden. Dennoch: Die Familie wurde 1943 von Berlin nach Theresienstadt deportiert, wo die Eltern Zwangsarbeit leisten mussten. Kurt Crohn wurde 1944 von dort nach Auschwitz verschleppt und ermordet.

[Quelle] Inge Lammel: Jüdische Lebensbilder aus Pankow – Familien, Lebensläufe, Kurzportraits. 1996. Edition Hentrich, Berlin