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D Mühlenstraße 77 – Erst Mädchenhaus, dann Gemeindehaus und schließlich „Judenhaus“

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In der Mühlenstrasse 77 sind heute Wohnungen und Büros. Als 1894 ein Trägerverein für ein Jüdisches Waisenhaus für Mädchen das Grundstück erwarb, gab es noch ein Vorderhaus, das heute nicht mehr steht. Das Waisenhaus wurde von Justizrat Hermann Makower gegründet, wie auch jenes für Jungen in der Berliner Strasse (Station A). Die Waisenhäuser sollten nicht nur Schutz bieten, sondern auch den Schulbesuch und eine Ausbildung ermöglichen.

Ab 1929 nutzte die jüdische Gemeinde Berlin das Gebäude für diverse Wohlfahrtseinrichtungen und Lehrwerkstätten für Kinder und Jugendliche. Auch zionistische Organisationen und ein Sozialistischer Jugendverband mieteten Räume für ihre Veranstaltungen. 1935 richtete der Pankower Religionsvereins „Agudath Achim“ hier einen Beetsaal ein. Die Hebräischen Worte bedeuten in etwa „Brüderliche Gemeinschaft“, und stehen für Traditionspflege und gegenseitige Unterstützung.

Nach der Schließung der Betstätte Im Jahr 1940 wurde die Mühlenstraße 77 als Zwangsunterkunft für jüdische Familien genutzt – als sogenanntes „Judenhaus“. Zwischen 1941 und 1943 wurden hier 22 Menschen verhaftet und in Vernichtungslager deportiert.

Bild 1 – Die Mühlenstr. 77 (damals 86) im Jahr 1935
Bild 1 – Die Mühlenstr. 77 (damals 86) im Jahr 1935

Info

Als Parallel-Einrichtung zum jüdischen Waisenhaus für Knaben in der Berliner Straße 120/121 eröffnete der Justizrat Hermann Makower am l. Juni 1894 das Mädchenhaus Pankow mit zwölf jüdischen Waisenmädchen. Träger war ein selbständiger Verein, der mit Hilfe von Beiträgen, Spenden und Zuschüssen der jüdischen Gemeinde die nötigen Mittel für die Unterhaltung des Hauses, die Betreuung und Ausbildung der jungen Mädchen aufbrachte. Laut Satzung vom 25. November 1900 verfolgte der Verein den Zweck, „arme deutsche Mädchen jüdischen Glaubens, insbesondere Waisen, zu dienstlichen Stellungen zu erziehen“. Mädchen im Alter von 14-16 Jahren wurden in Haushaltsführung, auch in Lesen, Schreiben und in Religion, unterrichtet. Mit 16 Jahren vermittelte sie der Verein in jüdische Familien als Haushaltshilfen. Später sind auch einige schulpflichtige Kinder in das Heim aufgenommen worden, sie besuchten Pankower Volksschulen. Der Verein hatte ein 1400 qm großes Gelände mit zwei Gebäuden in der Mühlenstraße 77 (damals Nr. 86) erworben. Das rückwärtige, zweistöckige Quergebäude mit dem Vorbau war das Haupthaus, hinter dem sich ein größerer Garten erstreckte; vorn an der Straße stand noch ein kleineres Einzelhaus. Im Frühjahr 1929 ist das Pankower Mädchenhaus nach Potsdam verlegt worden, es hieß dann „Mädchenheim Potsdam“. Doch bereits 1930/31 übersiedelte die Einrichtung nach Hermsdorf, in den Norden Berlins, und wurde mit dem Waisenhaus des dortigen Frauenvereins von 1833 zum „Jüdischen Kinder- und Jugendheim Hermsdorf‘ vereinigt. Die Erzieherin Recha Loevy, schon in Pankow Leiterin des Mädchenhauses, begleitete ihre Zöglinge zunächst nach Potsdam und anschließend nach Hermsdorf, wo sie bis zur vermutlichen Auflösung 1935 die Leitung des vereinigten Heims übernahm. Recha Loevy ist nach ihrer Deportation am 20. Juli 1943 in Theresienstadt verstorben.

Nach dem Auszug der Mädchen aus der Mühlenstraße 77 im Frühjahr 1929 wurde die Jüdische Gemeinde Eigentümerin des Geländes. Die Häuser wurden nun vielfältig genutzt: als Jugend- und Lehrlingswohnheim, als Kindergarten und Kinderhort; jüdische Wohlfahrtsstellen und Fürsorgeeinrichtungen fanden hier Unterschlupf, ärztliche Kindersprechstunden wurden abgehalten, zionistische Organisationen und der Sozialistische Jugendverband (Jugendorganisation der SAP) mieteten Räume für ihre Veranstaltungen. Die Zweigbibliothek der Berliner Jüdischen Gemeinde zog aus der Schulstraße 29 hier ein; Lehrwerkstätten und ein jüdisches Handwerkerheim siedelten sich vermutlich im Vorderhaus an. 1935 ist der große, sechsfenstrige Parterreraum im Quergebäude nach Entwürfen von Alexander Beer zur Synagoge des 1895 gegründeten Pankower Religionsvereins „Agudath Achim“ umgebaut worden. Gemeindehaus Pankow war jetzt die Bezeichnung für die Mühlenstraße 77. Öffentliche Gottesdienste konnten in der Synagoge noch bis Ende 1940 stattfinden.

In den Jahren nach der Schließung der Betstätte sind die Gebäude als Zwangsunterkünfte für jüdische Familien genutzt worden, nachdem die NS-Behörden sie aus ihren bisherigen Wohnungen exmittiert hatten. Das jüdische Gemeindehaus wurde zum sogenannten Judenhaus, aus dem zwischen 1941 und 1943 neun Familien mit 22 Angehörigen verhaftet und von der Gestapo in Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert worden sind. Nach Kriegsende siedelten sich in den Räumen Betriebe und Büros an, das Vorderhaus wurde 1968 wegen Baufälligkeit abgerissen.

Am 9. November 1994 ist die nahegelegene Straße 22 in Benjamin-Vogelsdorff-Straße umbenannt worden, in Würdigung des langjährigen Vorsitzenden der Pankower jüdischen Gemeinde, des Zahnarztes Dr. Benjamin Vogelsdorff. Die Nazizeit hatte er mit seiner Frau Marie illegal in Berlin überlebt. In der Mühlenstraße 77 befindet sich seit 2003 eine Gedenktafel.

[Quelle] Inge Lammel: Stätten jüdischen Lebens in Pankow – Ein Rundgang. 4.Auflage, 2012. VVN-BdA Berlin-Pankow e.V.

Person – Hermann Makower

Hermann Makower war Gründer der Jüdischen Waisenhäuser in Pankow. Er wurde 1830 in der preußischen Provinz Posen in eine jüdische Kaufmannsfamilie geboren, die ihn zur höheren Schule und anschließendem Studium nach Berlin schickte. Er wurde schließlich der erste jüdische Jurist im Preussischen Staatsdienst. Noch bevor Juden mit Reichsgründung 1871 volle Staatsbürgerrechte in Deutschland erhielten, begann er seine beispiellose Karriere im Staatsdienst, in dem er an der Erarbeitung einer Zivilprozessordnung und einer Gemeinschulordnung mitwirkte, und die Kommentare für eine offizielle Ausgabe des Handelsgesetzbuches verfasste. 1864 bekam er die Zulassung als Rechtsanwalt. Später sollte er Verteidiger in bedeutenden Prozessen werden. 1882 verteidigte er den Historiker Theodor Mommsen, der wegen Beleidigung des Reichskanzlers Otto von Bismarck angeklagt wurde. 1883/1884 verteidigte er erfolgreich die jüdischen Angeklagten in einem viel beachteten Prozess um den Brand einer Syagoge on Neustettin.

Hermann Makower war sehr aktiv in der Jüdischen Gemeinde Berlin und leitete später deren Repräsentantenversammlung. Als Reaktion auf die blutigen Judenpogrome in Russland gründete er ein Hilfskomitee und reiste persönlich zur russischen Grenze, um dort eine Gruppe jüdischer Waisenkinder in Empfang zu nehmen. Zu deren Unterbringung wurde das II. Waisenhaus der Jüdischen Gemeinde Berlin gegründet, für dessen Erweiterung einige Jahre später das noch immer vorhandene Gebäude in der Berliner Strasse 120/121 errichtet wurde. Hermann Makower starb 1897 im Alter von 67 Jahren. Auf dem jüdischen Friedhof in der Schönhauser Allee in Berlin Prenzlauer Berg befindet sich die Grabstätte von Hermann und Doris Makower.

[Quelle] Isidore Singer, Max Cohen: Makower, Hermann (1906) Jewish Encyclopedia (digitalisiert).

Sein Sohn Felix Makower wurde ebenfalls Rechtsanwalt, sowie letzter Vorsitzender des Verbandes der Deutschen Juden. Felix Makower verstarb im Alter von rund 70 Jahren am Tag der Machtübertragung an Adolf Hitler - dem 31. Januar 1933.

zitiert nach Wikipedia ... Breslauer, Walter: Der Verband der Deutschen Juden (1904–1922). In: Bulletin des Leo Baeck Instituts 7. 1964, S.345-379